Wo bleibt der Kulturwandel im Finanzsystem …

… der Politik und den Kirchen?

Es ist zur Zeit viel zu lesen, hören und sehen von Achtsamkeit und Kulturwandel in der Arbeitswelt – aber wo bleibt der Kulturwandel im Finanzsystem, der Politik und den Kirchen? Warum verharrt hier vieles in den alten Strukturen?

In dem Film „Die stille Revolution“ von Kristian Gründling über den Kulturwandel in der Arbeitswelt sagt Götz Werner (Gründer der Drogeriemarktkette dm) sinngemäß „Gewinn ist kein Unternehmensziel, sondern eine Bedingung für ein Unternehmen, so wie wir atmen müssen um zu leben“. Und in einem Interview zu diesem Film erläutert der Neurobiologe Prof. Gerald Hüther die möglichen Folgen einer Sinnsuche des Einzelnen für unser gegenwärtiges globales Wirtschafts- und Finanzsystem. Er kommt dabei zu dem Schluß, dass aus Sicht des derzeitigen Wirtschaftssystems die Sinnfindung des Einzelnen geradezu verhindert werden muss, da Menschen, die ihren tieferen Lebenssinn gefunden haben, als Konsumenten weitgehend ausfallen: Sie haben nämlich erkannt, dass Konsum a) nicht glücklich macht und b) nicht dabei hilft, das Lebensziel, nämlich den gefundenen Lebenssinn umzusetzen, zu erreichen (vgl. z.B. auch dieses Interview auf utopia.de).

Ein Wandel im gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzsystem, das weitestgehend auf quantitativem Wachstum beruht, wird also erst möglich sein, wenn eine genügend große Anzahl von Menschen aus innerem Antrieb heraus ihren tieferen Lebenssinn (John Strelecky [Autor u.a. von „The Big Five for Life“] spricht vom „Zweck der Existenz“) entdeckt und sich auf den Weg gemacht haben, ihn umzusetzen. Diese kritische Masse ist wohl noch nicht ganz erreicht, wir sind aber auf dem Weg dahin. Hier wird besonders deutlich, dass einem äußeren Wandel eine innere Suche und Transformation voraus gehen muss.

Wie sieht es in der Politik aus?

Hier finden wir in den etablierten Parteien relativ starre und hierachische Machtstrukturen vor. Wer mit Idealen neu in die Politik einsteigt und etwas bewegen will, muss sich erst durch Orts-, Kreis- etc. pp. Verbände durcharbeiten oder tut sich als „Quereinsteiger“ ohne passenden „Stallgeruch“ sehr schwer. Welcher Typus von Mensch, auf welcher psychischen Entwicklungsstufe, kommt hier nach oben? Welche Eigenschaften, Überzeugungen und inneren Haltungen werden auf dem Weg duch die Macht-Hierarchien nach oben benötigt und verstärken sich bei Erfolg selbst? Dieses System reproduziert immer wieder die gleiche Art von Spitzenpolitikern (natürlich mit einigen Ausnahmen, die aber nicht ausreichen, um das System selbst zu transformieren, da es sich eben um Ausnahmen handelt). Und Versuche, so ein System von außen zu verändern, werden am Machterhaltungstrieb der jetzt Mächtigen weitestgehend scheitern (es sei denn, diese Personen durchlaufen zunächst eine innere Transformation).

In der Arbeitswelt, in vielen Unternehmen ist man da schon weiter. Konzepte wie „Lean Management“ und „Agile Strukturen“ gingen mit deutlichen Abflachungen von Macht-Hierarchien einher, teilweise sogar der kompletten Auflösung solcher Hierarchien. In diesen Organisationen sind Macht- und Status-getriebene Motivationen nicht mehr so gefragt – hier kann sich jeder Mitarbeiter direkt entsprechend seinem Potential und seinem „ZDE“ (Zweck der Existenz) einbringen und etwas bewegen. Aber diese Veränderungen können nicht von außen und oben über ein Unternehmen „gestülpt“ werden. Der aktuelle Kulturwandel in der Arbeitswelt entfaltet sich durch die Förderung der Entwicklung und Potentialentfaltung jedes einzelnen Mitarbeiters. Teilweise entstehen in einem Unternehmen an verschiedenen Stellen entsprechende Keimzellen – in besonders eindrucksvollen Fällen ist diese Keimzelle sogar die Geschäftsführung, wie im Falle der Hotelkette Upstaalsboom und seinem Chef Bodo Janssen (bekannt als der Upstaalsboom-Weg).

Für einen Kulturwandel in der Politik müssten also zunächst ähnliche individuelle innere Transformationen bei den Mitgliedern und Aktiven der politischen Parteien stattfinden. In einem nächsten Schritt könnten sich derart transformierte „ICHs“ im intersubjektiven „WIR-Raum“ über neue Formen der Zusammenarbeit (Werte, Kultur) austauschen, was dann im dritten Schritt auch zu einer Veränderung der äußerlich sichtbaren Parteistrukturen führen würde.

Wenig Hoffnung besteht aktuell für einen Kulturwandel in den großen Kirchen. Hier haben sich die hierarchischen Organisationsstrukturen, die einer seit Jahrtausenden existierenden traditionell-konformistischen Entwicklungsstufe entsprechen, derart verfestigt, dass alle Bemühungen, diese von innen heraus aufzuweichen, bisher weitestgehend gescheitert sind. Die eigentlichen Ursachen dieser extremen Verfestigung und Undurchlässigkeit, warum sich also im Inneren nicht genügend Veränderungspotential entfalten kann, liegen aber tiefer – ich werde darauf in meinem nächsten Artikel Sinnkrisen und Spirituelle Intelligenz detailliert eingehen.

Am Beispiel der Kirchen kann man besonders deutlich erkennen, was passiert, wenn die internen Keimzellen der o.g. Transformationsprozesse durch eine extrem starre Machthierarchie „im Keim erstickt“ werden: Die Mitglieder treten aus, da sie keine Möglichkeit sehen, den inneren Transformationsprozess im gemeinsamen intersubjektiven Wir-Raum weiter zu entwickeln, um dann auch Veränderungen in den Strukturen durchzusetzen. In solchen Situationen verlassen die transformierten Individuen häufig die Organisationen und gründen alternative Bewegungen.

Der Wandel so großer Organisationen wie Parteien und Kirchen, in denen eine zentrale Führung die Machtstruktur vorgibt, muss auch von dieser Führung gewollt, gefördert und vor allem gelebt werden. Und hier muss sich insbesondere in den Kirchen dringend etwas bewegen, zeigt sich doch schon seit geraumer Zeit eine spirituelle Krise dramatischen Ausmasses. Aber auch in der Politik, ersichtlich durch die sich weiter verschärfende Krise der Demokatie, die auch eine Krise der Parteien ist, ist ein Kulturwandel dringend erforderlich.

Dr. Peter Wolfrum