Achtsamkeit u. multiple Intelligenzen in Organisationen

Die Kultivierung von Achtsamkeit (Mindfulness) durch verschiedene Meditationstechniken (Samatha, Vipassana, Metta-Meditation) macht in einer, auch als „Aufwachen“ bezeichneten, horizontalen Entwicklung veränderte Bewusstseinszustände stabil zugänglich. Diese Zustände sind mit charakteristischen Gehirnwellen verknüpft, die sich bei Meditierenden in einem EEG nachweisen lassen. Grundsätzlich sind diese Bewusstseinszustände allen Menschen, unabhängig von ihrer strukurellen Bewusstseinsentwicklung, zugänglich.
Die strukurelle Bewusstseinsentwicklung verläuft entlang unterschiedlicher Entwicklungslinien (multiple Intelligenzen) über mehrere Strukturstufen und ist u.a. Gegenstand der Entwicklungspsychologie. Man spricht auch von einem vertikalen Wachstumsprozess. Zu den Entwicklungslinien zählen u.a. die Intelligenzen in den Bereichen Kognition, Emotion, Selbstidentifikation, Moral, Weltsicht, Bedürfnisse.
Nun gibt es zwei wesentliche Rahmenbedingungen, wenn in einer Organisation durch Meditationstechniken Achtsamkeit kultiviert werden soll:

1. Durch Meditation (Innensicht auf das Innere eines Individuums – Phänomenologie) lässt sich nicht die eigene Bewusstseinsstruktur (Aussensicht auf das Innere eines Individuums – Strukturalismus) „sehen“. Die „Brille“ durch die ich die Welt wahrnehme und interpretiere, verschwindet nicht automatisch durch Meditation (und Kultivierung von Achtsamkeit), da sie unbewusst bleibt. Das Ergebnis ist, dass ich die Erkenntnisse meines horizontalen Aufwachens (Erfahrung veränderter Bewusstseinszustände) entsprechend meiner Bewusstseinsstruktur (vertikales Wachstum) interpretiere, jetzt zwar mit größerer Achtsamkeit, die grundlegende Bewusstseinsstruktur aufgrund der vertikalen Stufenentwicklung aber im wesentlichen zunächst erhalten bleibt. Der Zusammenhang zwischen vertikalem Wachstum über Bewusstseinsstrukturstufen und horizontalem Aufwachen über Bewusstseinszustandsstufen lässt sich im sog. Wilber-Combs-Raster dastellen:

Abb. 1: Wilber-Combs-Raster mit Strukturstufen (Ebene) „Magisch/egozentrisch“, „Mythisch/konformistisch“, „rational“, „pluralistisch“, „integral“ und den Zustandsstufen „Grobstofflich“, „Subtil“, „Kausal“, „Zeuge“ und „Nondual“.

2. Das vertikale Bewusstseinsentwicklung (Wachstum) über mehrere Strukturstufen verläuft entlang der Entwicklungslinien (multiplen Intelligenzen) nicht synchron. Das bedeutet beispielsweise, dass jemand bei der emotionalen Intelligenz eine höhere Strukturstufe erreicht haben kann, als bei seiner Selbstidentifikation oder seiner moralischen Entwicklung. Diesen Zusammenhang wiederum kann ein sog. Psychogramm abbilden:

Abb. 2: Psychogramm mit Darstellung der multiplen Intelligenzen auf der x-Achse und der vertikalen Bewusstseinsstrukturstufen auf der y-Achse.

Förderung der vertikalen Bewusstseinsentwicklung über die Strukturstufen durch Meditation

Es ist bekannt, dass die allgemeine vertikale Bewusstseinsentwicklung zwar nicht ursächlich durch bestimmte Meditationsübungen ausgelöst werden kann, diese wohl aber förderliche Rahmenbedingungen für ein Wachstum auf bestimmten Entwicklungslinien schaffen können. Insbesondere dann, wenn zusätzlich das Wissen über die Landkarten der vertikalen Bewusstseinsentwicklung über die Strukturstufen vermittelt wird. Diese Rahmenbedingungen wirken psychoaktiv auf das weitere vertikale Wachstum – allerdings ist auch hier zu beachten, dass der vertikale Wachstumsprozss nicht automatisch gleichmäßig alle multipen Intelligenzen betrifft (vgl. die Darstellung im Psychogramm).

Was soll durch die Kultivierung von Achtsamkeit in einer Organisation erreicht werden?

In einer Organisation kann es unterschiedliche Beweggründe geben, Achtsamkeit kultivieren zu wollen.

Beispielsweise kann das Ziel sein, den Umgang mit psychischen Belastungen zu verbessern (Stressmanagement). Hier würde man wohl im wesentlichen Meditationsübungen (Samatha, Vipassana) trainieren, die es erlauben, vom Autopiloten auf manuelle Steuerung umzuschalten, indem der Raum zwischen Reiz und Reaktion bewusst zugänglich wird und vergrößert werden kann. Zusätzlich hilft die Faktenvermittlung zur physiologischen Stressreaktion und die neurologischen Grundlagen der entsprechenden Prozesse im Gehirn.

Ein anderes Ziel kann die Verbesserung der emotionalen Intelligenz sein, um dadurch die Qualität der Führung und der Kommunikation (intern und extern gegenüber Kunden) zu optimieren. Hier würde man den Schwerpunkt auf andere Meditationsübungen legen, beispielsweise auf die Metta-Meditation, welche dabei unterstützen kann, liebevolle Güte und eine mitfühlende Haltung zu entwickeln.

Verschiedene Programme zur Entwicklung von Achtsamkeit (MBSR – Mindfulness Based Stress Reduction; S.I.Y. – Search Inside Yourself) legen dementsprechend unterschiedliche Schwerpunkte.

Tektonische Spannungen durch ungleichmäßige Entwicklung der multiplen Intelligenzen im Individuum

Wenn parallel zur allgemeinen Entwicklung von Achtsamkeit (horizontales Aufwachen) besonderer Wert auf die Förderung bestimmter Intelligenzen (vertikales Wachstum) gelegt wird, kann eine ungleichmäßige Bewusstseinsentwicklung entlang der Entwicklungslinien über die Strukturstufen die (unbeabsichtigte) Folge sein. Im Psychogramm würden demgemäß große Unterschiede bei der Entwicklung der multiplen Intelligenzen sichtbar. Eine nicht gleichmäßige Entwicklung der multiplen Intelligenzen durch die Strukturstufen ist zwar normal, eine stark unausgewogene Entwicklung kann aber zu „tektonischen psychischen“ Spannungen im Individuum führen.

Wenn jemand intensiv Achtsam-keitsmeditation übt und als Hauptziel die Entwicklung seiner emotionalen Intelligenz im Auge hat, ist damit eine gleichzeitige Entwicklung der anderen Intelligenzen nicht automatisch garantiert. Das kann also dazu führen, dass die emotionale Intelligenz sich beispielsweise bis auf die Strukturstufe „Integral“ entwickelt, während sich die Werte-Intelligenz und die Bedürfnis-Intelligenz erst bis zur Strukturstufe „Rational“ entwickelt haben. Entsprechend interpretiert diese in Achtsamkeit und emotionaler Intelligenz geschulte Person die Welt und wird entsprechend ihrer Bewusstseinsstruktur ihre hohe emotionale Intelligenz nutzen (Nutzung von Emotionen), um ihre Ziele entsprechend der vorherrschenden Wertebasis (Streben und Trachten) und den persönlichen Bedürfnissen (Anerkennung und Wertschätzung) zu verwirklichen.

Abb. 3: Darstellung Entwicklungslinien vs. Strukturstufe der vertikalen Bewusstseinsentwicklung.

Werte und Kultur in einer Organisation mit homogener bzw. heterogener Zusammensetzung der Bewusstseinsstrukturen der individuellen Mitglieder

Wenn in einer Organisation die Entwicklung von Achtsamkeit bei den individuellen Mitgliedern der Organisation voranschreitet, entwickelt sich insgesamt auch im Kollektiv zunehmende Achtsamkeit (vgl. mein Artikel Integrale Achtsamkeit und achtsamer Kulturwandel). Soll auf dieser Grundlage ein Kulturwandel in der Organisation eingeleitet werden, muss die vertikale Bewusstseinsentwicklung über die Strukturstufen bei den Mitgliedern der Organisation berücksichtigt werden. Achtsamkeit bedeutet noch lange nicht, dass die, für einen Kulturwandel notwenigen Werte, in der Organisation eine breite übereinstimmende Grundlage haben (weil es eben keinen kausalen Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und der multiplen Intelligenz Werte gibt).

Befinden sich sehr viele Mitglieder der Oraganisation auf der gleichen Bewusstseinsstrukturstufe bzgl. ihrer Werte-Intelligenz, so sollte sich ein, auf der Grundlage der, auf dieser Stufe vorherrschenden Werte, Kulturwandel relativ leicht bewerkstelligen lassen.

In überwiegend traditionell-konformistisch geprägten Organisationen ist der vorherrschende Wert Macht und Wahrheit und dies wird die Organisationskultur prägen (vgl. z.B. Kirchen), in überwiegend modern-rationalen Organisationen herrscht der Wert des Strebens und Trachtens vor (vgl. z.B. naturwissenschaftliche Forschungsinstitute oder Wirtschaftsunternehmen), während in Organisationen, in denen die breite Mehrheit der Mitglieder auf der Strukturstufe postmodern-pluralistisch angekommen ist, wird die menschliche Bindung eine wesentliche Grundlage der Kultur dieser Organisation darstellen. In folgender Tabelle sind typische Merkmale von Organisationen, in denen eine bestimmte Strukturstufe vorherrschend ist, dargestellt:

Abb. 4: Auswirkung von Entwicklungsstrukturstufen auf Organisationen (nach Frederic Laloux)

Was passiert nun, wenn eine Organisation in Bezug auf die Entwicklungsstrukturstufe ihrer Mitglieder sehr heterogen zusammengesetzt ist?

Wenn hier die Führung der Organisation entsprechend ihrer eigenen Weltsicht (Bewusstseinsstrukturstufe) und den entsprechenden Werten eine Unternehmenskultur vorgibt, hat das den Effekt, dass die Mitglieder der Organisation, die sich nicht auf der gleichen Bewusstseinsstrukturstufe befinden, ihre Werte in dieser Organisation größtenteils nicht wiederfinden und nicht leben können. Das führt in erster Konsequenz zu einer deutlichen Trennung von „Arbeitswelt“ und „Privatsphäre“ mit jeweils unterschiedlichen Wertegrundlagen (und anderen Einstellungen bzgl. Moral, Weltsicht etc.) und kann in der Folge zu einer inneren oder auch äußeren Kündigung führen.

Was ist also zu tun?

In solch heterogenen Organisationen bedarf eines gut strukturierten Prozesses zur Entwicklung einer gemeinsam akzeptierten Wertegrundlage, in den alle Mitglieder der Organisation einbezogen werden müssen. Die unterschiedlichen Werte der unterschiedlichen individuellen Organisationsmitglieder müssen soweit möglich in die gemeinsame Wertebasis eingebracht werden, damit alle Mitglieder diese mittragen können und eine daraus entwickelte gemeinsame Unternehmskultur leben können. Dieser Prozess wird nur erfolgreich sein können, wenn er von einer zumindest pluralistischen, besser noch integralen Basis aus gestaltet wird, da alle Strukturstufen bis einschließlich pluralistisch extreme Schwierigkeiten damit haben, andere Wertesysteme als das eigene zuzulassen und zu integrieren.

„Further, you can experience virtually any state at virtually any structure level—for example, you can be at the mythic level and develop through all states completely, from gross to nondual unity consciousness, becoming one with the world, but the world you will be “one with” includes only levels up to the mythic. Over your head—and not included in your union of Emptiness and Form—are levels of Form that are Rational, Pluralistic, Integral, and Super-Integral. Those levels of existence or Form are not included in your unity consciousness, because they haven’t emerged yet in your case, and you can’t be one with something that you don’t even know is there. So your unity consciousness is not actually a wholeness that includes everything, just a wholeness up to the mythic level. For example, you can be at an ethnocentric mythic level and yet still develop through all the major states and become a fully transmitted Zen master. But you would still have aspects of your personality that are ethnocentric, even racist. You might be strongly authoritarian and hierarchical, homophobic, sexist, patriarchal, xenophobic—all the characteristics of the ethnocentric mythic level, even though you experience yourself in a deep oneness with all of that. I really don’t mean this in a harsh way, but Enlightened nerds are not only possible, they’re common.“

 

Zitat aus „The Religion of Tomorrow: A Vision for the Future of the Great Traditions – More Inclusive, More Comprehensive, More Complete“ von Ken Wilber


Literatur

Ken Wilber: The Religion of Tomorrow: A Vision for the Future of the Great Traditions – More Inclusive, More Comprehensive, More Complete. (2017) Shambala Publications, Boulder, Colorado.

Ken Wilber: Integral Meditation + Mindfullness as a Path to Grow Up, Wake Up, and Show Up in Your Life. (2016) Shambala Publications.

Ken Wilber: Integrale Spiritualität – Spirituelle Intelligenz rettet die Welt. (2007) Kösel-Verlag.

Frederic Laloux: Reinventing Organizations: A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness (2014) Nelson-Parker.

Frederic Laloux: Reinventing Organizations visuell: Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit (2017) Vahlen.


 

Dr. Peter Wolfrum