Achtsamkeit – Wer bin ich?​ – Ethisches Handeln

Jon Kabat-Zinn, Begründer des MBSR-Programms weist in einem Interview in der Zeitschrift moment by moment  deutlich darauf hin, dass es in der Achtsamkeitspraxis nicht nur darum geht, zu lernen, In-Stille-zu-sein, sondern es geht auch „um achtsames Handeln im Dienste der Weisheit und des Mitgefühls für andere und die Welt, weil wir von ihr nicht getrennt sind. Daher muss die Achtsamkeit in einem ethischen Boden des Nichtverletzens und der Selbstlosigkeit verwurzelt sein.“ (…) „Wir brauchen jetzt dringend ein einschließendes, allumfassendes nichtduales Verständnis der Wirklichkeit.“

Achtsamkeit ist in aller Munde und Achtsamkeits-Lehrer sprießen wie Pilze aus dem Boden. Wenn eine Sache im Mainstream-Denken ankommt, müssen wir darauf achten, dass aus lauter Begeisterung die tiefen spirituellen Wurzeln der Achtsamkeit nicht aus dem Blick geraten und das gewaltige Potential nicht auf Kosten einer egogetriebenen Kommerzialisierung und oberflächlichen Entspannungsmethode in einer Well-being-Kultur verlorengeht. Achtsamkeit zu üben bedeutet, uns mit dem eigenen menschlichen Leid und dem anderer zu befassen und diese Achtsamkeit kann eine Heilung im Hier und Jetzt katalysieren, indem wir uns die Fragen „Wer oder Was bin ich?“, „Wer oder Was ist ein anderer?“ stellen und diesseits der oberflächlichen Geschichten über uns, in der Tiefe forschen.

Wenn ich mir die Frage „Wer bin ich?“ stelle und über die oberflächlichen Antworten hinaus („Geschichten über mich“) weiter in der Tiefe suche, stelle ich fest, dass an dieser Suche immer zwei Ichs beteiligt sind – ein Ich, das von mir (einem zweiten Ich) beschrieben wird. Wer ist der, der beschreibt? – Ein Subjekt, das versucht, sich selbst zum Objekt zu machen, wird tausend Objekte hervorbringen, aber immer Subjekt bleiben. Der Sehende sieht, kann sich aber nicht selbst sehen. Der Zeuge bezeugt einfach alles was ist, bleibt selbst aber unsichtbar, kann nicht zum Objekt gemacht werden.

Und dieser Zeuge bin ich. Und auch du bist dieser Zeuge. Es gibt nur den EINEN Zeugen, der immer jederzeit im Jetzt gegewärtig ist und der der GEIST selbst IST. Und der EINE GEIST ist alles was ist und alles entsteht in ihm. Deshalb kann er auch nicht als Objekt gefunden werden. Jedes fühlende Wesen ist der EINE. Deshalb sind wir nicht nur miteinander verbunden, wir sind tatsächlich alle EINS. Und damit tun wir in einem ganz wörtlichen Sinne, das, was wir anderen antun, uns selbst an.

Und damit bin ich wieder bei der Einleitung: Wenn man diesen allgegenwärtigen GEIST jetzt in diesem Augenblick vollständig gewahrt, führt dies zu achtsamen Handeln im Dienste der Weisheit und des Mitgefühls für andere und die Welt. Dies ist der ethische Boden des Nichtverletzens und der Selbstlosigkeit, das einschließende, allumfassende nichtduale Verständnis der Wirklichkeit.

Einige Zitate dazu, die es vielleicht deutlicher und klarer beschreiben:

Jesus von Nazareth:
„Ich und der Vater sind eins.“
(Johannes 10, 30)

 Erwin Schrödinger in „Was ist Leben?“:
„Uns bleibt nur eines übrig: wir müssen uns an die unmittelbare Erfahrung halten, dass das Bewusstsein ein Singular ist, dessen Plural wir nicht kennen.“

… und weil ich bisher sonst noch keinen Autoren gefunden habe, der es so treffend ausdrücken kann:

Ken Wilber in „Das Wahre, Schöne, Gute“, Zitate aus Kapitel 12 „Immer schon – Die strahlende Klarheit allgegenwärtigen Gewahrseins“ (S. 399 ff.):

„Alles Suchen, alle Bewegung, alles Streben ist zutiefst zwecklos. Die große Suche verstärkt lediglich den großen Irrtum, dass an irgendeinem Ort der GEIST nicht wäre und dass man von dort, wo er nicht ist, dorthin gelangen müsse, wo er ist. Aber es gibt keinen Ort, an dem weniger, und keinen Ort, an dem mehr GEIST wäre. Es gibt nur GEIST.“ (…)

„Wenn nun der GEIST nicht als künftiges Ergebnis der großen Suche gefunden werden kann, dann gibt es nur eine Alternative: Der GEIST muss jetzt, in diesem Augenblick, voll und ganz gegenwärtig sein, und man muss ihn jetzt voll und ganz gewahren. Es genügt nicht zu sagen, dass der GEIST gegenwärtig ist und man ihn nur noch nicht erkennt. Dies würde die große Suche notwendig machen, dies würde verlangen, dass man ein Morgen sucht, in dem man die volle Gegenwart des GEISTES erkennen könnte, aber diese Suche verfehlt schon in ihrem ersten Schritt die Gegenwart. Solange man sucht, findet man nicht. Nein: Die Erkenntnis selbst, das Gewahren selbst muss irgendwie genau jetzt voll und ganz gegenwärtig sein.“ (…)

„Diese ursprüngliche Erkenntnis des Einen Geschmacks – nicht die Herbeiführung, sondern das schlichte Anerkennen der Tatsache, dass man selbst und der Kósmos Ein GEIST ist, Ein Geschmack, Eine Geste – ist das große Geschenk der nichtdualen Traditionen.“ (…)

„Manche Menschen haben größte Schwierigkeiten, den GEIST zu verstehen, weil sie versuchen, ihn als Objekt des Gewahrseins oder als Objekt des Begreifens zu sehen. Aber die höchste Wirklichkeit ist nicht etwas, das man sehen kann, sondern der Seher selbst. Der GEIST ist kein Objekt; er ist radikales allgegenwärtiges Subjekt und daher nichts, was vor uns wie ein Stein, ein Bild, ein Gedanke, ein Licht, eine Empfindung, eine Erkenntnis, eine leuchtende Wolke, eine intensive Schau oder eine Empfindung großer Seligkeit auftauchen würde. All dies ist recht und schön – aber es sind Objekte, und eben dies ist der GEIST nicht.“ (…)

„Meister Eckhart sagt: „Gott ist mir näher, als ich mir selbst bin“, denn Gott und ich sind eins im allgegenwärtigen Zeugen, der die Wesensnatur des inneren GEISTES selbst ist, der genau dasjenige ist, was ich im Zustand meiner Ichseiendheit bin. Wenn ich kein Objekt bin, bin ich Gott (und jedes Ich im ganzen Kósmos kann dies mit ganzem Recht von sich sagen). Ich trete nicht in diesen Zustand des allgegenwärtigen Zeugen ein, der der GEIST selbst ist. Ich kann in diesen Zustand nicht ‚eintreten‘, weil er ja allgegenwärtig ist. Ich kann nicht beginnen, Zeuge zu sein: Ich kann nur gewahren, dass dieses schlichte Zeuge-Sein immer schon geschieht. Dieser Zustand hat keinen Anfang in der Zeit, weil er immer in der Gegenwart ist.“ (…)

„Wenn ich in diesem schlichten, klaren, allgegenwärtigen Zeugen ruhe, ruhe ich im großen Ungeborenen, im wesenhaften GEIST, in der ursprünglichen Leerheit, in unendlicher Freiheit. Ich kann nicht gesehen werden, ich bin ohne alle Eigenschaften. Ich bin nicht dieses und nicht jenes. Ich bin kein Objekt. Ich bin weder hell noch dunkel, weder groß noch klein, weder hier noch dort. Ich habe keine Farbe, keinen Ort, keinen Raum und keine Zeit; ich bin äußerste Leerheit, ein anderes Wort für unendliche Freiheit, unendliche Ungebundenheit. Ich bin die Öffnung oder Lichtung, in der die ganze manifeste Welt eben jetzt entsteht, aber ich entstehe nicht in ihr: Sie entsteht in mir, in dieser unermesslichen Leerheit und Freiheit, die ich bin.“ (…)

„Wenn ich im reinen schlichten Zeugen ruhe, wird mir allmählich auch deutlich, dass der Zeuge selbst kein getrenntes Ding oder etwas außerhalb desjenigen ist, dessen zeuge er ist. Alle Dinge entstehen innerhalb des Zeugen, so dass der Zeuge selbst hinter allen Dingen verschwindet.“ (…)

„Es gibt kein Subjekt und kein Objekt, weil ich die Wolken nicht sehe: Ich bin die Wolken. Es gibt kein Subjekt und kein Objekt, weil ich den kühlen Lufthauch nicht fühle: Ich bin der kühle Lufthauch. Es gibt kein Subjekt und kein Objekt, weil ich den Donner nicht grollen höre: Ich bin der grollende Donner. Ich bin nicht mehr auf dieser Seite meines Antlitzes und betrachte die Welt da draußen: Ich bin einfach die Welt. Ich bin nicht hier drinnen. Ich habe das Gesicht verloren – und mein ursprüngliches Antlitz entdeckt, den Kósmos selbst. Der Vogel singt, und ich bin das. Die Sonne geht auf, und ich bin das. Der Mond scheint, und ich bin das in einem schlichten, allgegenwärtigen Gewahren.“ (…)

„Wenn du im schlichten, allgegenwärtigen Gewahrsein ruhst, bist du der große Ungeborene, frei von allen Eigenschaften. Du gewahrst Farbe, bist aber farblos. Du gewahrst Zeit, bist aber zeitlos. Du gewahrst Form, bist aber formlos. In der großen Weite der ursprünglichen Leerheit bist du für diese Welt immer unsichtbar. Es ist einfach so, dass du als verkörpertes Wesen auch in der Welt der Form entstehst, die deine eigene Manifestation ist. Die inneren Potentiale des erleuchteten Geistes (die inneren Potentiale deines allgegenwärtigen Gewahrseins) wie Gleichmut, Unterscheidende Weisheit, Spiegelgleiche Weisheit, Urgrundbewusstsein und Allesumfassendes Gewahrsein, all dies verbindet sich mit den individuellen Neigungen und Begabungen deines eigenen Körper-Geistes.“


Artikel

Peter Wolfrum: Kontemplation in Kommunikation

Peter Wolfrum: Meditation und Bewusstseinszustände

Peter Wolfrum: Das torlose Tor


Literatur

Ken Wilber: Das Wahre, Schöne, Gute – Geist und Kultur im 3. Jahrtausend (1999) Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main.

David Loy: Nondualität – Über die Natur der Wiklichkeit (1988) Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main. – Die deutsche (und englische) Ausgabe ist zur Zeit nicht lieferbar, der Autor stellt auf seiner Homepage ein PDF der englischen Ausgabe zum Download bereit: http://www.davidloy.org/downloads/Loy_Nonduality.pdf

Ramana Maharshi: Sei was Du bist! Die wichtigsten Lehren des großen indischen Weisen (Hrsg.: David Godman) (2011) O. W. Barth Verlag, München.

Ken Wilber: Integral Meditation + Mindfullness as a Path to Grow Up, Wake Up, and Show Up in Your Life. (2016) Shambala Publications.

Dr. Peter Wolfrum