Integrale Achtsamkeit

Achtsamkeit ist in aller Munde, es ist sogar von einer Achtsamkeitsrevolution die Rede. Ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist es prinzipiell sehr wünschenswert, dass immer mehr Menschen zur Achtsamkeit finden. Andererseits wird Achtsamkeit teilweise wie ein Produkt, als einfach einzuübende und dann anwendbare Technik zur Selbstopimierung angeboten. Dies steht nicht wirklich im Einklang mit Achtsamkeit als Zustand, der sich einstellt, wenn ich aufhöre zu versuchen etwas zu erreichen oder etwas zu werden – wenn ich einfach nur das bin, was ich immer schon bin.

In diesem Artikel möchte ich auf der Grundlage des 4-Quadranten-Modells von Ken Wilbers Integraler AQAL-Metatheorie das Thema Achtsamkeit aus diesen vier Perspektiven betrachten – das Innere des Individuums, das Innere eines Kollektivs, das Äußere eines Individuums, das Äußere eines Kollektivs.

Da Achtsamkeit ein Zustand ist, der durch die Übung der Meditation stabilisiert werden kann, und es sich dabei um einen Bewusstseinszustand des Aufwachens handelt, ist sie relativ unabhängig von der vorherrschenden vertikalen Bewusstseinsstufe (Wachstum), auf der sich jemand befindet. Allerdings ist es auch so, dass Achtsamkeit alleine nicht die Art und Weise, auf die ich aufgrund meiner Bewusstseinsentwicklung (vertikales Wachstum) die Welt wahrnehme und interpretiere, unmittelbar transzendieren kann. Ich werde die Welt dann zunächst einfach achtsamer durch diese Brille wahrnehmen und interpretieren. Der Ausgangspunkt für unsere Reise durch die vier Quadranten beginnt im Inneren des Individuums (OL).

Was sind die vier Quadranten – welche Perspektiven sind gemeint?

Durch Anwendung der beiden grundlegenden Polaritäten „Innen“ vs. „Außen“ und „Individuell“ vs. „Kollektiv“ lassen sich nach Ken Wilber die vier Quadranten aufspannen, die folgende verschiedenen Perspektiven repräsentieren:

  • OL (Oben Links): „Individuum-Innen“ / 1. Person Singular: ICH (subjektiv)
  • OR (Oben Rechts): „Individuum-Außen“ / 3. Person Singular: ES (objektiv)
  • UL (Unten Links): „Kollektiv-Innen“ / 2. Person Plural: WIR (inter-subjektiv)
  • UR (Unten Rechts): „Kollektiv-Außen“ / 3. Person Plural: SIE (objektiv)

Quadrant Oben Lins (QOL) – Das Innere des Individuums


Ausgangspunkt für die Betrachtung integraler Achtsamkeit ist QOL (Quadrant OL / Individuum-Innen), in dem man nochmals die Perspektiven „Innenseite des Inneren eines Individuums“ (Zone 1) und „Außenseite des Inneren eines Individuums“ (Zone 2) differenzieren kann.

Für die Achtsamkeit ist nun entscheidend, was sich in Zone 1 abspielt – hier wird das eigene „Ich“ von innen, als gefühlte Erfahrung erlebt. Es handelt sich also um die Perspektive der 1. Person auf die Erfahrung der 1. Person. Diese inneren Erfahrungen untersuchen (Phänomenologie) die kontemplativen Traditionen mit Techniken wie Introspektion, Meditation und Kontemplation. Wir sprechen hier von einer horizontalen Entwicklung (Aufwachen) über verschiedene Bewusstseinszustände (Zustands-Stufen), wobei sich traditionsübergreifend folgende fünf Hauptstufen beschreiben lassen:

Durch die klassischen Meditationsübungen zur Entwicklung von Achtsamkeit entwickle ich in diesem Bereich (QOL) Achtsamkeit gegenüber meiner eigenen Innerlichkeit. Ich werde aufmerksam gegenüber meinen innerlichen physischen, emotionalen und mentalen Prozessen und trete in direkten Kontakt mit mir selbst und meinem Wahrnehmungsstrom. Dabei erfahre ich im Rahmen des zunehmenden Aufwachens, dass ich nicht ausschließlich mein Körper, meine Gefühle und meine Gedanken bin. Es setzt eine stufenweise Des-Identifikation und Transzendierung mit anschließender Integration ein (insofern gleicht dieser Prozess dem, was bei der vertikalen Bewusstseinsentwicklung abläuft). Dieser Bewusstwerdungsprozess im Rahmen veränderter Bewusstseinszustände mit fortschreitender Desidentifikation von allen Objekten, die mein Bewusstsein erschafft, hilft schließlich dabei, das, was ich bin, schon immer bin und immer sein werde, jetzt in diesem Augenblick urteilsfrei zu erfahren. Und das ist nicht etwas, was man durch Meditationstechniken erreichen kann. Es ist das, was gerade jetzt, in diesem Augenblick, diese Zeilen liest.

Derart in QOL entwickelte Achtsamkeit ist aber grundsätzlich nicht in der Lage, die Strukturen meines Bewusstseins und die Mechanismen meiner eigenen Psychodynamiken zu erkennen – ein direktes Wachstum zu höheren Bewusstseinsstufen wird dadurch alleine nicht induziert (vgl. auch mein Artikel Meditation und Bewusstseinszustände). Hier zeigen Forschungen in der Zone 2 des QOL (Strukturalismus), dass die Bewusstseinsentwicklung stufenförmig (Ebenen, Strukturen) entlang mehrerer Entwicklungslinien (multiple Intelligenzen) im Sinne einer Holarchie (jede höhere Stufe transzendiert die Vorläuferstufe und integriert sie anschließend) verläuft. Die Beziehung zwischen dieser vertikalen (Wachstum, Bewusstseinsstufen) und horizontaler (Aufwachen, Bewusstseinszustände) Bewusstseinsentwicklung ist einfach derart, dass der jeweils erfahrene Bewusstseinszustand entsprechend der vorherrschenden Bewusstseinsstufe, auf der sich das Individuum befindet, interpretiert wird.

Damit wird auch deutlich, warum die durch Meditation (QOL) entwickelte Achtsamkeit, alleine nicht in der Lage ist, Psychodynamiken wie z. B. Verdrängung / Projektion zu erkennen und aufzulösen. Dazu ist das Verstehen und Entschlüsseln der Dynamiken des eigenen Bewusstseins, mögliche Fehler, die im Wachstumsprozess durch die vertikalen Stufen, infolge unvollständigem Transzendieren und Integrieren, entstanden sind, notwendig. Dies habe ich in meinem Artikel Meditieren alleine reicht nicht ! beschrieben.

Quadrant Oben Rechts (QOR) – Das Äußere des Individuums

Hier, in der Domäne der Naturwissenschaften, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die äußeren objektiven Erscheinungen. In Zusammenhang mit integraler Achtsamkeit ergeben sich in QOR zwei grundlegende Betrachtungen:

  1. Die durch meditative Schulung entwickelte Achtsamkeit (QOL) zeigt hier im QOR objektiv nachweisbare Veränderungen in den materiellen Strukturen des Gehirns. In diesem Bereich gibt es mittlerweile einen regelrechten Boom an wissenschaftlichen Untersuchungen, die parallel zur Kultivierung von Achtsamkeit diese materiellen Veränderungen nachweisen und somit den Tatbestand der Neuroplastizität unseres Gerhirns nachgewiesen haben (siehe dazu auch mein Artikel Meditation und Neuroplastizität des Gehirns).
  2. Unsere Achtsamkeit sollte sich auch auf die objektiv erfahrbare äußere Wirklichkeit ausweiten, indem wir uns gegenüber unserer Umwelt und unseren Mitgeschöpfen achtsam verhalten und bei allen unseren Tätigkeiten und Wahrnehmungen eine achtsame Sorgfalt an den Tag legen.

Quadrant Unten Links (QUL) – Das Innere des Kollektivs

In diesem Bereich geht es nun um Intersubjektivität – alles das, was Menschen über gemeinsame Werte und Kultur miteinander teilen. Hier geht es insofern um innerliches Geschehen, da die Haltungen, Weltsichten und Werte nicht unmittelbar äußerlich sichtbar sind. Im Bereich QUR werden wir dann später sehen, dass sich Entsprechungen dieser kulturellen Werte auch im Äußeren manifestieren werden.

Hier müssen die Individuen also miteinander in Dialog treten und ihre eigene Subjektivität miteinander austauschen und in Beziehung bringen. Das gilt dann auch für die individuell entwickelte Achtsamkeit, damit im Kollektiv ebenfalls Achtsamkeit entstehen kann. Wie wir aber schon gesehen haben, interpretiert jedes Individuum die Welt entsprechend seiner schwerpuntsmäßig erreichten Bewusstseinsstufe in der vertikalen Bewusstseinsentwicklung (Wachstum). Aus diesem Grunde treffen in einem Kollektiv mehrerer Individuen verschiedene Interpretationen der Welt, und zwar durchaus auch achtsame Interpretationen, aufeinander. Das Problem, das dabei entsteht, ist, dass Individuen auf „1. Rang Bewusstseinsstufen“ die Weltsichten von Individuen, die sich auf anderen „1. Rang Bewusstseinsstufen“ befinden, nicht akzeptieren können. Entweder weil sich diese Weltenräume (im Falle von höheren Stufen) buchstäblich außerhalb des eigenen Bewusstseins befinden und damit gar nicht zugänglich sind, oder weil diese Weltsichten (im Falle tieferer Stufen) als „minderwertig“ angesehen werden und damit auch die Werte, die diesen Stufen entsprechen, verworfen werden (siehe dazu auch meinen Artikel Weltsichten).

Wird nun in einem Kollektiv (z.B. einem Unternehmen) ein achtsamkeitsbasierter Kulturwandel angestrebt, so wird es immer dann schwierig, wenn sich die individuellen Mitglieder dieses Kollektivs auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen (in der Abbildung rechts sind die derzeit vorherrschenden fünf Hauptstufen dargestellt) im Sinne des vertikalen Wachstums befinden. Das bedeutet, je heterogener die Zusammensetzung des Kollektivs in Bezug auf die Bewusstseinsstufen, desto schwieriger wird es, sich auf gemeinsame Werte als Grundlage des Kulturwandels zu verständigen (vergleiche dazu meinen Artikel Warum Kulturwandel oft schwierig ist).

Hier fällt den Individuen in dem Kollektiv, die sich auf einer integralen Bewusstseinsstufe („2. Rang-Bewusstseinsstufe“) befinden, eine zentrale Aufgabe zu. Die integrale Stufe ist die erste Stufe, auf der (im Gegensatz zu den vorherigen „1. Rang-Stufen“) man erstmals in der Lage ist, die Werte und Teilwahrheiten der „1. Rang-Bewusstseinsstufen“ anzuerkennen und in die eigene Weltsicht mit einzubeziehen. Damit sollten diese Individuen auch verinnerlicht haben, dass man das vertikale Bewusstseinswachstum zu höheren Stufen nicht durch Ermahnungen, Belehrungen, Erklärungen oder das „Verkaufen“ von „integralen Strategien“ anregen kann. Will man beispielsweise eine achtsame Unternehmenskultur mit Führungskompetenzen wie Bescheidenheit, emotionale Intelligenz und Teamfähigkeit entwickeln, so muss man Voraussetzungen und Rahmenbedingungen schaffen, die das vertikale Wachstum (Bewusstseinsentwicklung) aller Individuen des Kollektivs anregen, da diese Führungskompetenzen erst ab der pluralistisch-postmodernen Stufe wirklich ins Bewusstsein rücken.

Da Forschungen zeigen, dass einerseits schon das Wissen um und das aktive Studium der vertikalen Bewusstseinsstrukturen psychoaktiv auf das weitere Wachstum und die Entwicklung wirken und andererseits auf jeder dieser vertikalen Entwicklungsstufen die ganze horizontale Bandbreite an Bewusstseinszuständen zugänglich ist (Aufwachen) und Achtsamkeit entwickelt werden kann, und die Kombination von Meditation und  Studium der Entwicklungsstufen diese psychoaktive Wirkung noch verstärken, sollte in der Praxis eine Kombination aus Meditation (Entwicklung von Achtsamkeit) und Studium der vertikalen Bewusstseinsentwicklung einen Rahmen schaffen, in dem ein Kulturwandel auf der Grundlage intersubjektiv ermittelter, gemeinsamer Werte möglich wird.

Quadrant Unten Rechts (QUR) – Das Äußere des Kollektivs

Nachdem nun in einem Kollektiv durch achtsame intersubjektive Übereinkunft die gemeinsamen Werte für einen Kulturwandel der Achtsamkeit gefunden wurden, werden sich die Auswirkungen in QUR manifestieren und es gibt eine klare Grundlage, auf der Maßnahmen zur Organisationsentwicklung und systemischer Vernetzung entwickelt und umgesetzt werden können. Wollte man hier in diesem Bereich (QUR) beginnen eine äußere Wirklichkeit auf ein Kollektiv überzustülpen, das auf Basis der Achtsamkeit noch keine gemeinsame Wertebasis und kein allgemein aktzeptiertes Kulturverständnis entwickelt hat, wird dieses Projekt mit großer Wahrscheinlichkeit scheitern. Dies wäre ein typisches Beispiel von auf Hochglanz polierten Äußerlichkeiten, die im Inneren keine wirklichen Entsprechungen zeigen.

Integrale Achtsamkeit

Der integrale Ansatz hilft uns dabei, alle vier Perspektiven (die vier Quadranten) gleichermaßen in unsere achtsamen Betrachtungen einzubeziehen und keinen dieser Bereiche auszublenden oder zu unter- bzw. überfordern. Mit der Bewusstwerdung aller möglichen Perspektiven und der Integration eine alle vier Bereiche umfassende Achtsamkeit, geht der Ansatz der integralen Achtsamkeit über das hinaus, was klassischerweise bei der Meditation über die innerlichen Aspekte der Wahrnehmung und Identifizierungen im Vordergrund steht.

Eine integrale Achtsamkeitspraxis muss daher objektives Wissen und subjektives Fühlen zu einer umfassenden Erfahrung all unserer Lebensdimensionen, in denen wir uns empathisch mit uns selbst und mit anderen Menschen und allen empfindenden Wesen und mit der äußeren Wirklichkeit als einem belebten Universum verbunden fühlen, integrieren.


Literatur

Michael Habecker: Integrale Achtsamkeit (18.01.2019) https://www.integralesforum.org/medien/integrale-bibliothek/praxis/religion-spiritualitaet/4533-integrale-achtsamkeit.

Ken Wilber: The Religion of Tomorrow: A Vision for the Future of the Great Traditions – More Inclusive, More Comprehensive, More Complete. (2017) Shambala Publications, Boulder, Colorado.

Ken Wilber: Integral Meditation + Mindfullness as a Path to Grow Up, Wake Up, and Show Up in Your Life. (2016) Shambala Publications.

Ken Wilber: Integrale Spiritualität – Spirituelle Intelligenz rettet die Welt. (2007) Kösel-Verlag.

Dr. Peter Wolfrum