Weltsichten

Quer durch die gesamte Entwicklungspsychologie findet man mit variierenden Bezeichnungen, in Abhängigkeit davon, welche der multiplen Intelligenzen (Entwicklungslinien) man betrachtet (Weltsichten: Jean Gebser / Ich-Entwicklung: Jane Loevinger / Selbst-Gefühl: Susanne Cook-Greuter / Werte-Modell: Claire Graves / kognitive Intelligenz: Jean Piaget / Moralisches Urteil: Lawrence Kohlberg / Spiritualität, Stufen des Glaubens: James Fowler / Bedürfnisse: Abraham Maslow) wesentliche Entwicklungsstufen vor. Claire Graves war einer der ersten, der das in einem allgemeinen Entwicklungsschema beschrieben und zusammengefasst hat (Spiral Dynamics). Ken Wilber hat alle diese Forschungsergebnisse gesichtet und in seine integrale Theorie integriert. Er hat auch Farbschema zur Identifizierung der einzelnen Stufen eingeführt, das sich etwas von den in Spiral Dynamics verwendeten Farben unterscheidet. Mir persönlich gefällt das Wilbersche Farbschema besser – er verwendet entsprechend eines Bewusstseins-„Spektrums“ den Ausschnitt des sichtbaren Lichts aus dem elektromagnetischen Spektrum mit zunehmender Frequenz für höhere Bewusstseinsstufen. Eine sehr ausführliche Übersicht mit vielen Tabellen findet man in Ken Wilbers „Integrale Psychologie“.

Bedeutende Stufen in unserer Zeit – Vertikales Wachstum

Die wesentlichen in der modernen wesentlichen Welt anzutreffenden Stufen sind:

Bei diesem Stufenmodell handelt es sich nicht um eine willkürliche Machthierarchie sondern um eine natürliche Wachstumshierarchie (Holarchie [von Holon]), in der jede Stufe einzeln durchlaufen, transzendiert und integriert werden muss. Jeder Mensch startet bei Geburt auf der tiefsten Stufe (unterhalb der hier verwendeten Stufe 1) und jeder hat das Recht weiterzuwachsen oder irgendwo eine Pause einzulegen. Das hat natürlich nichts mit seinem grundlegenden Wert des Mensch-Seins zu tun. Leider wird dies erst ab der integrale Stufen er- und anerkannt. Ab hier werden alle relativen Wahrheiten als Teilwahrheiten erkannt und zusammengeführt. Es geht nicht gegen- sondern nur miteinander.

In der modernen westlichen Welt befinden sich ca. 10% der Bevölkerung auf der magischen, ca. 40% auf der mythischen und ca. 40-50% auf der rationalen Bewusstseinsstufe. Lediglich ca. 15-20% befinden sich auf der pluralistisch-postmodernen Stufe und ca. 5% auf einer integralen Stufe. (Die Prozentangaben ergänzen sich nicht zu 100%, da es Überlappungen gibt. Die Werte sind Ken Wilbers neuestem Buch „The Religion Of Tommorrow“ (2017) entnommen.)

Das Wissen um diese Entwicklungsstufen soll uns dabei helfen, Menschen auf einer anderen Bewusstseinsstufe, mit einer anderen Weltsicht, besser zu verstehen und besser mit ihnen zu kommunizieren. Und es kann uns aufzeigen, welche Wachstumsmöglichkeiten uns selber noch offenstehen.

Brillen verzerren die Wirklichkeit

Menschen, die sich auf den gleichen Bewusstseinsstufen befinden, neigen dazu sich zusammenzutun, da sie die gleiche Sprache sprechen. Dies trifft auch für die Verteilung der Bewusstseinsstufen in verschiedenen Berufen zu. So befinden sich beispielsweise unter Wirtschaftslenkern und Wissenschaftlern viele auf der rational-modernen Stufe, Menschen in sozialen Berufen und NGOs übermäßig häufig auf der pluralistisch-postmodernen Stufe und unter den integrativen Vordenkern sind viele auf einer integralen Stufe.

Das Problem dieser integralen Vordenker ist nun aber leider, dass Führungskompetenzen wie „Bescheidenheit, emotionale Intelligenz, Teamfähigkeit“ erst ab der pluralistisch-postmodernen Stufe wirklich ins Bewusstsein rücken. Da sich die Hauptklientel aber überwiegend auf der rational-modernen Stufe befindet, ergeben sich gewisse Verständnisschwierigkeiten. Und da hilft auch kein noch so geduldiges Erklären – Menschen auf einer rational-modernen Stufe können die Welt, von der ihnen jemand auf der integralen Stufe berichtet, buchstäblich NICHT SEHEN. Ihr Bewusstsein kann das noch nicht erfassen, was auf der pluralistisch-postmodernen und auf der integralen Stufe sichtbar wird. Dazu kommt erschwerend hinzu, dass bis einschließlich zur pluralistisch-postmodernen Stufe die eigene Sichtweise als die einzig richtige, ja akzeptable angesehen wird. Alle anderen müssen sich irren. Erst ab der integralen Stufe, im Gegensatz zu den vorherigen „1. Rang-Stufen“ eine „2. Rang-Bewusstseinsstufe“ ist man erstmals in der Lage, die Werte und Teilwahrheiten der „1. Rang Bewusstseinsstufen“ anzuerkennen und in die eigene Weltsicht mit einzubeziehen. Damit sollte man dann aber auch verinnerlicht haben, dass man das vertikale Bewusstseinswachstum zu höheren Stufen nicht durch Ermahnungen, Belehrungen, Erklärungen oder das „Verkaufen“ von „integralen Strategien“ anregen kann.

Aber wie bringen wir uns und andere dazu, zu erkennen, dass wir die Welt durch eine uns unbewusste, unsichtbare Brille (Bewusstseinsstruktur) wahrnehmen und interpretieren. Und wie erwecken wir die Einsicht, dass diese Brillen unseren Blick trüben? Und wie werden wir diese Brillen möglichst ganz los?

Achtsamkeit – Horizontales Aufwachen

Beim Erkennen unserer Brillen und dem weiteren vertikalen Wachstum zu höheren Bewusstseinsstufen können uns zwei Umstände ganz besonders helfen:

  • Die Forschung zeigt, dass schon das Wissen um dieses Bewusstseinsspektrum (die Landkarte) und das aktive Studium dieser Strukturen psychoaktiv wirkt, d.h. das weitere Wachstum und die Entwicklung anregt.
  • Auf jeder vertikalen Entwicklungsstufe ist die ganze horizontale Bandbreite an Bewusstseinszuständen zugänglich (Aufwachen), d.h. egal wo jemand auf der Entwicklungsholarchie (relative Wahrheiten in der Welt der Formen) gerade unterwegs ist, kann diese Person meditieren, achtsamkeit sein, das Zeugenbewusstsein oder die Einheit von Form und Leere erfahren („Nondualität“). Wie dieser Mensch diese Erfahrungen dann interpretiert, welche Schlußfolgerungen er aus seiner Erfahrung zieht, hängt allerdings wiederum von der vertikalen Bewusstseinsstufe ab, auf der er sich schwerpunktmäßig befindet. Es gibt aber Hinweise darauf, dass Meditation in Kombination mit dem Wissen um die Entwicklungsstufen (s.o.) die psychoaktive Wirkung auf das vertikale Entwicklungs-Wachstum verstärkt.

Untersuchungen vergangener kultureller Umwälzungen zeigen, dass immer ein Anteil von ca. 10% der Bevölkerung auf der zu dieser Zeit führenden Bewusstseinsstufe notwendig war, um solch eine Umwälzung auf breiter Front quer durch die gesamte Gesellschaft zu starten. Sollte also in hoffentlich naher Zukunft der Anteil der Bevölkerung in der modernen westlichen Welt auf einer integralen Bewusstseinsstufe von derzeit ca. 5% bis auf 10% anwachsen, können wir auf eine neue Kulturrevolution in Richtung integraler Werte wie „Integration“, „Verbundenheit“, „Kulturelle Harmonie“ und auf höhere Stufen kontemplativer Spiritualität hoffen.

Hoffentlich bleibt uns und der Erde dann noch genügend Zeit unsere gegenwärtigen Probleme auf dieser höheren Stufe zu lösen.

Literatur

Ken Wilber: „The Religion of Tomorrow: A Vision for the Future of the Great Traditions – More Inclusive, More Comprehensive, More Complete“ (2017) Shambala.

Dr. Peter Wolfrum