Integrale Achtsamkeit in Unternehmen

(als Antwort auf den ZEIT-Artikel „Achtsamkeit – Ooomm, mein Gott!“ von Bernd Kramer vom 10.09.2018)

In vielen Unternehmen werden seit geraumer Zeit für die Mitarbeiter mit einigem Erfolg Achtsamkeitsprogramme eingeführt. Über die Absichten und den Sinn dahinter kann man von außen nur spekulieren.

Um wirklich zu verstehen, was Achtsamkeit eigentlich ist, muss man selber Erfahrungen in der Meditation und Achtsamkeit sammeln. Einen Reiseführer über ein Land zu schreiben, das man nicht selbst schon bereist hat, ist wenig glaubwürdig.

Welche langfristigen positiven Auswirkungen ein Achtsamkeitstraining auf Mitarbeiter und Unternehmen haben wird, hängt u. a. auch davon ab, mit welcher Absicht dieses Training eingeführt wurde.

Die Motivation hinter der Einführung eines Achtsamkeitstrainings in einem Unternehmen sollte sein, die Mitarbeiter dazu zu befähigen, alle Faktoren, die im Arbeitsalltag auf sie einwirken,

  1.       klar und deutlich bewusst wahrnehmen zu können,
  2.       ohne direkt in Reiz-Reaktionsautomatismen zu verfallen,
  3.       sondern erstmal die unmittelbaren Körperreaktionen fühlen zu können,
  4.       ohne diese gleich zu bewerten,
  5.       die „Hoheit“ über das eigene Handeln wieder zu gewinnen,
  6.       dann bewusst Entscheidungen treffen zu können, um sich
  7.       dadurch Spielräume für eigenverantwortliches Handeln zu eröffnen.

Dadurch wird keineswegs „das Stressempfinden vermindert“ – im Gegenteil wird „die Wahrnehmung von Stress geschärft“. Allerdings lernt der Mitarbeiter die automatisierte Stressreaktion zu dämpfen (Aktivierung der Amygdala mit „Kampf- oder Fluchtreaktion“ bei gleichzeitiger Beeinträchtigung des logischen Denkvermögens, Ausschüttung von Stresshormonen, Aktivierung des Sympathikus im ANS). Damit gewinnt der „achtsam Gestresste“ Handlungsspielraum durch die bewusste Vergrößerung des „Raums zwischen Reiz und Reaktion“ (Viktor Frankl). Und das erhöht natürlich die Zufriedenheit bei der Arbeit: Wenn ich wieder selbstbestimmt handeln kann.

Dadurch können natürlich vermehrt Situationen eintreten, in denen ein Mitarbeiter eine momentan akute oder auch chronische Über- (oder Unter)-forderung registriert, ohne das gleich zu bewerten. Es ist wie es ist. Dann sollte dieser Mitarbeiter entweder

  1.     in der Lage sein, selbstständig eigenverantwortlich unter Berücksichtigung seiner psychischen und physischen Gesundheit Lösungsmöglichkeiten zu finden, oder
  2.     mit seinem Vorgesetzten „selbstbewusst“ über die Situation sprechen können.

Und hier wird es in der Tat spannend – zeigt sich doch spätestens jetzt die Absicht, mit der das Unternehmen die Achtsamkeitstrainings eingeführt hat: Gibt es in dem Unternehmen auch einen Werte- und Kulturwandel (und damit sind nicht Hochglanzbroschüren gemeint, sondern gelebtes Handeln), der diesen Vorgesetzten dabei unterstützt und in die Lage versetzt, aufgrund seiner emotionalen Intelligenz empathisch zu reagieren und eine tragfähige gemeinsame Lösung im Dialog mit dem Mitarbeiter zu finden (Bevor Schlimmeres passiert und der Mitarbeiter ggf. langfristig ausfällt)?

Oder bleiben Unternehmenskultur und Werte von den Achtsamkeitstrainings unberührt? In diesen Fällen könnte man tatsächlich unterstellen, dass die Achtsamkeitsprogramme nur eingeführt wurden, um die Mitarbeiter noch stärker belasten zu können. Unternehmen, die so verfahren, werden aber keinen langfristigen Erfolg mit diesen Programmen haben, denn sie haben sich selbst eine tickende Zeitbombe ins Nest gelegt.

Mitarbeiter, die ein Achtsamkeitstraining und praktizierte Achtsamkeit kennen und schätzen gelernt haben, geben diese nicht so schnell wieder auf. Das führt mittelfristig irgendwann auch zur Stellung der „Frage nach dem Sinn“. Mitarbeiter werden möglicherweise Aufgaben, die der intrinsischen Motivation entsprechen und mit dem eigenen „Sinn des Lebens“ vereinbar sind, wesentlich motivierter und produktiver angehen, als solche Aufgaben, deren Sinn nicht erkannt wird (das können auch bisher „angenehme“ Dinge sein) oder die dem eigenen Lebenssinn zuwider laufen. Man kann das aber auch positiv sehen und von einem Wandel von der „Ressourcenausnutzung“ zur „Potentialentfaltung“ sprechen. Hier liegt das wirklich kreativ-evolutionäre Potential solcher Programme. Für das Unternehmen ist es daher sehr wichtig, rechtzeitig die „Sinnfrage“ auch für das ganze Unternehmen zu stellen. Möglicherweise werden Mitarbeiter das Unternehmen verlassen und dafür andere dazu kommen. In der Summe dürfte sich das eher positiv auswirken. Es entsteht eine win-win-Situation.

Durch ein Achtsamkeitstraining den Umgang der Mitarbeiter mit Stress verändern zu wollen, bedeutet nicht, dass die Mitarbeiter zukünftig mehr negativen Stress (Disstress) aushalten können. Sollte dies zunächst geschehen, wird dies ein kurzfristiger „Erfolg“ sein, denn der sich anschließende Zusammenbruch wird nur umso heftiger. Da hilft die daoistische Yin-Yang-Philosophie zur Einsicht: Alle gegenläufigen Kräfte kommen über einen bestimmten (Zeit)raum ins Gleichgewicht. Also auch Anspannung und Entspannung (oder Arbeit und Erholung). Je länger und heftiger die Überforderung, desto steiler und/oder länger der Absturz. Es sind die zwei Seiten einer Münze, die sich nicht trennen lassen. Das Beste ist, diese Zyklen selber bewusst wahrzunehmen (sie sind bei jedem Menschen sicher anders und variieren in Amplitude und Frequenz) und dann „einfach“ auf diese Körpersignale zu hören … wobei wiederum ein Achtsamkeitstraining sehr hilfreich sein kann.

Damit kommen wir zurück zum Unternehmen und der tickenden Zeitbombe. Die mittelfristige Wirkung von Achtsamkeit bei den Mitarbeitern führt mit ziemlicher Sicherheit auch dazu, dass diese wacher werden und die Absichten des Unternehmens hinter der Einführung eines Achtsamkeits­programms durchschauen und diese Absichten dann auch thematisieren. Ich prognostiziere, dass alle Unternehmen, die Achtsamkeitskurse einführen, um die Mitarbeiter besser ausbeuten zu können, damit nach Anfangserfolgen letztendlich scheitern werden.

Es ist also wichtig, rechtzeitig einen integralen Ansatz (Ken Wilber) zu verfolgen und nicht nur den Mitarbeiter mit seinem Inneren (1. Person Singular / ICH / subjektiv / Geist) und Äußerem (3. Person Singular / ES / objektiv / Gehirn, Verhalten) im Blick zu haben, sondern auch den kollektiven Bereich mit ein zu beziehen. Das wären im Inneren (2. Person Plural / viele ICHs ergeben ein WIR / intersubjektiv) im Wesentlichen Kultur und Werte, im Äußeren (3. Person Plural / SIE / objektiv) zum Beispiel Organisationsformen und Kommunikationsroutinen. Diese 4 Bereiche können nicht aufeinander reduziert werden und Interventionen in einem Bereich zeigen Entsprechungen in den anderen Bereichen. Maßnahmen, die auf unterschiedliche Bereiche zielen, dürfen sich nicht widersprechen. Damit passt ein Achtsamkeitstraining, das auf das Innere eines Individuums zielt, und die Förderung der emotionalen Intelligenz beabsichtigt, nicht zu einer Unternehmenskultur, in der rücksichtslos Macht ausgeübt wird, was sich im Äußeren häufig in starren Machthierarchien materialisiert.

Hier kommt ein weiterer Aspekt eines integralen Rahmens ins Spiel: Viele verschiedene Forscher haben herausgefunden, dass die menschliche Entwicklung entlang multipler Intelligenzen stufenförmig verläuft (z.B. Piaget und Kegan für die kognitive Intelligenz, Goleman für die emotionale Intelligenz, Kohlberg für Moral, Loevinger für Selbstidentität, Fowler für die spirituelle Intelligenz, Maslow für die Bedürfnisse, Gebser für die Weltsicht). Ken Wilber hat in seiner integralen Metatheorie diese Stufenabfolge, durch die sich die diversen Entwicklungslinien ziehen, als Spektrum des Bewusstseins bezeichnet. Fünf der wichtigsten Entwicklungsstufen (es gibt mehr und auch feiner differenziert) kann man bezeichnen mit

  1.       Impulsiv-egozentrisch
  2.       Traditionell-konformistisch
  3.       Rational-modern
  4.       Postmodern-pluralistisch
  5.       Integral-evolutionär

Diese Erkenntnis hat nun zur Folge, dass in einem integralen Rahmen zusätzlich zur Betrachtung der o.g. vier Bereiche (bei Wilber „Die vier Quadranten“) auch die Entwicklungsstufen der wichtigsten multiplen Intelligenzen Berücksichtigung finden müssen. Und um es noch komplexer zu machen: Die multiplen Intelligenzen entwickeln sich in einem Individuum nicht synchron, d.h. jemand mit hoher kognitiver Intelligenz kann durchaus noch auf eine niedrigeren Stufe bei der emotionalen Intelligenz stehen.

Wenn nun in einem Unternehmen durch ein Achtsamkeitsprogramm die Entwicklungslinie „emotionale Intelligenz“ bei den Mitarbeitern gefördert wird, entwickeln sich nicht zwangsläufig auch Moral und Bedürfnisse entsprechend mit. Insgesamt kann es so zu einer stärkeren Verzerrung in der Entwicklung der einzelnen Intelligenzen kommen (Ungleichgewicht; stark differenziertes Psychogramm), was sich in zunehmenden Spannungen ausdrücken kann. Die Entwicklungsstufen selbst sind ja quasi unsichtbar (vgl. den Spielregeln beim Skat – wenn man die nicht kennt und einer Skatrunde beim Spielen zuschaut, benötigt es schon etwas Zeit, genaue Beobachtung und ein gewisses Maß an kognitiver Intelligenz, bis man die zugrunde liegenden Regeln „durchschaut“).

Es ist für Unternehmen, die ein Achtsamkeitstraining für ihre Mitarbeiter einführen, also auch sehr wichtig, sich rechtzeitig Gedanken über „neue Formen sinnstiftender Zusammenarbeit“ im Unternehmen Gedanken zu machen (Frederic Laloux). ). Und da passen starre Machthierarchien, die der traditionell-konformistischen Stufe entsprechen, nicht zu einer emotionalen Intelligenz, die sich durch Empathie ausdrückt und der postmodern-pluralistischen Stufe entspricht. Und eine integrale Weltsicht (integral methodologischer Pluralismus) ist nicht gerade kompatibel mit einer Moral die auf Strafe und Gehorsam beruht (impusiv-egozentrische Stufe).

Zum Schluss noch eine Anmerkung zum Themenkomplex „Esoterik – Spiritualität – Religion“, der ja leider häufig bunt durcheinander geworfen wird. Worin sich das ganze Dilemma mit dem Nichtverstehen von Spiritualität Ausdruck verleiht. Die offiziellen Kirchen „hängen“ weiterhin auf der traditionell-konformistischen Entwicklungsstufe fest. Für Menschen auf der rational-modernen oder pluralistisch-postmodernen oder integral-evolutionären Stufe bieten die offiziellen Kirchen damit keine „passenden“ Angebote. Über die traditionell-konformistische Stufe haben sich viele Menschen in einigen Entwicklungslinien hinaus entwickelt. Die spirituelle Intelligenz haben sie vernachlässigt und erkennen jetzt zumindest, dass das spirituelle Angebot der traditionell-konformistischen Stufe nicht mehr zu ihrem Weltbild passt. Als Folge verwerfen sie jetzt aber die gesamte Spiritualität (das „Kind mit dem Bade ausschütten“), was aber bedeutet die Entwicklungslinie „spirituelle Intelligenz“ mit der Entwicklungsstufe „traditionell-konformistisch“ zu verwechseln und quasi gleichzusetzen.

Hier ist viel Aufklärungsarbeit notwendig, denn letztendlich führt die Beschäftigung mit dem eigenen Geist irgendwann zu der Frage „Wer oder was bin ich?“ und damit nach der Frage über den Sinn der eigenen Existenz. Und das ist üblicherweise die Frage, auf die die spirituelle Intelligenz eine Antwort sucht: „Was ist mein höchstes Anliegen?“.


Literatur

Ken Wilber: Das Wahre, Schöne, Gute – Geist und Kultur im 3. Jahrtausend; Krüger, Frankfurt am Main, 1999.

Ken Wilber: Integrale Psychologie – Geist, Bewusstsein, Psychologie, Therapie; Arbor, Freiburg, 2001.

Ken Wilber: Integrale Spiritualität – Spirituelle Intelligenz rettet die Welt; Kösel, München, 2007.

Ken Wilber: Integrale Meditation – Wachsen, erwachen und innerlich frei werden; O.W.Barth, München, 2017.

Frederic Laloux: Reinventing Organizations: A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness; Nelson-Parker, Brüssel, 2014.

Frederic Laloux: Reinventing Organizations visuell: Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit; Vahlen, München, 2017.

Dr. Peter Wolfrum