Warum Kulturwandel oft schwierig ist

Wer kennt das nicht: Man spricht eigentlich die gleiche Sprache, hat aber das Gefühl, das Gegenüber versteht zwar die Worte, aber nicht die Bedeutung. Was kann man tun? Kann man etwas tun?
Semiotik

Wir starten mit einem kleinen Ausflug in die Semiotik: Konkrete Worte sind Zeichen, die zwei Komponenten enthalten: Signifikanten und Signifikate. Signifikanten sind die Ausdrucksseite eines Zeichens, d.h. die (quasi)-materiellen Worte oder Klänge. Signifikate sind die Inhaltsseite und verweisen auf die Bedeutung. Diese Bedeutung kommt mir beim Hören des Wortes in den Sinn (bzw. sollte mir in den Sinn kommen). Der Referent schließlich ist der tatsächliche Gegenstand oder Sachverhalt auf den Bezug genommen wird.

An einem Beispiel wird das Ganze deutlicher: Das konkrete Wort „Katze“ ist ein Zeichen, der Signifikant ist z.B. der Klang des gesprochenen Wortes „Katze“, das Signifikat kommt mir beim Hören des Signifikanten in den Sinn. Die real existierende Katze ist der Referent.

Aber wie sieht das Ganze bei nicht materiellen Referenten aus? Das schauen wir uns einmal für die drei Referenten ‚Wurzel aus -1‘, ‚globales Ökosystem‘ und ‚menschliche Bindung‘ an.

Dazu müssen wir uns zunächst mit zwei weiteren Begriffen beschäftigen: Entwicklungsstufen und Perspektiven.

Entwicklungsstufen

Die allgemeine Entwicklung verläuft entlang verschiedener Linien (Konzept der Multiplen Intelligenzen nach Howard Gardner) über mehrere Stufen im Sinne einer Holarchie (eine Hierarchie von Holonen [nach Arthur Köstler]), d.h. jede höhere Stufe transzendiert die Vorgängerstufe und integriert diese anschließend (wenn alles gut geht).

Einige wichtige Entwicklungslinien (multiple Intelligenzen), die wegweisenden Forscher auf diesem Gebiet und die jeweilige zentrale Lebensfrage über fünf grundlegenden Entwicklungsstufen (Farbcode [nach Ken Wilber]) impulsiv-egozentrisch (Rot), traditionell-konformistisch (Bernstein), modern-rational (Orange), pluralistisch-postmodern (Grün), integral-evolutionär (Türkis) zeigt folgende Tabelle:

Die für einige dieser Linien charakteristischen Antworten auf die jeweilige Lebensfrage für jede der fünf grundlegenden Entwicklungsstufen sind in dieser Tabelle dargestellt:

Jede höhere Entwicklungsstufe fügt nun dem Weltenraum der darunterliegenden Stufe zusätzliche Inhalte bzw. Formen hinzu, die auf der vorherigen Stufe noch nicht gesehen werden konnten. Das gilt für die einzelnen Entwicklungslinien relativ unabhängig voneinander, d.h. eine Person die kognitiv auf der grünen Stufe angekommen ist, kann moralisch auf Bernstein und in Bezug auf das Wertesystem auf Orange stehen. Die folgende spezifische Darstellung der jeweils erreichten Entwicklungsstufe auf den unterschiedlichen Entwicklungslinien bezeichnet man als „Psychogramm“, exemplarisch:

 Weltenräume

Damit wird schon deutlich, dass der Referent ‚Wurzel aus -1‘ erst ab der Entwicklungsstufe Orange, der Referent ‚Globales Ökosystem‘ erst ab der Stufe Türkis und der Referent ‚Menschliche Bindung‘ erst auf Stufe Grün gesehen werden kann. Globale Ökosysteme existieren damit damit erst in einem türkisen oder höheren Weltenraum – in einer orangenen Welt (rational-modern) existieren kein globalen Ökosysteme, weil sie nicht gesehen werden können (wahrscheinlich mit ein Grund, warum die Welt dem Klimawandel teilweise leugnend gegenüber steht).

Das klingt vielleicht extrem, aber so ist es mit der Entwicklungspsychologie. Ein plastisches Beispiel in der kognitiven Entwicklung von Kindern (nach Jean Piaget): Geben Sie einem vierjährigen Kind einen Ball in die Hände, dessen eine Hälfte rot, die andere Hälfte grün gefärbt ist. Das Kind kann sich den Ball von allen Seiten genau anschauen. Wenn sie jetzt den Ball nehmen und ihn so zwischen sich und das Kind halten, dass sie die rote Seite sehen und das Kind die grüne Seite, wird es aus seiner egozentrischen Sicht heraus ihre Frage „Welche Farbe sehe ich?“ mit „grün“ beantworten. Das vierjährige Kind kann einfach noch keine andere Perspektive einnehmen und sich den Ball aus ihrer Sicht heraus vorstellen. Die rote Seite ist im egozentrischen Weltenraum nicht vorhanden. Die eigene Ansicht ist die einzig mögliche und richtige. Womit wir bei den Perspektiven wären.

 Perspektiven

Durch Anwendung der beiden grundlegenden Polaritäten „Innen“ vs. „Außen“ und „Individuum“ vs. „Kollektiv“ lassen sich folgende vier Quadranten aufspannen, die die verschiedenen Perspektiven widerspiegeln:

Die Perspektive des Referenten ergibt sich aus dem Quadranten in dem er exisitiert. Für unsere beiden Beispiele heißt das: ‚Wurzel aus -1‘ existiert in OL (Individuum Innen), ‚Globales Ökosystem‘ existiert in UR (Aussen Kollektiv) und ‚Menschliche Bindung‘ existiert in UL (Innen Kollektiv / Werte im gemeinsamen intersubjektiven „Wir-Raum“).

Wenn ich mich also in einer Organisation mit anderen Mitgliedern über einen wertebasierten Kulturwandel („menschliche Bindung als Basis der Zusammenarbeit“) austauschen möchte, so müssen alle Mitglieder Zugang zum grünen Weltenraum pluralistisch-postmodern haben und die intersubjektive Perspektive WIR einnehmen könnnen (Quadrant UL). Für Mitglieder der Organisation, die Werte-bezogen auf der orangenen (oder tiefer … auf der roten egozentrischen Stufe ist zusätzlich die Perspektive WIR nicht zugänglich) Entwicklungsstufe stehen, existiert der diskutierte Referent nicht. Sie können also die Bedeutung der Worte „menschliche Bindung als Basis der Zusammenarbeit“ tatsächlich nicht verstehen.


Literatur

Ken Wilber: The Religion of Tomorrow: A Vision for the Future of the Great Traditions – More Inclusive, More Comprehensive, More Complete (2017) Shambala Publications, Boulder, Colorado.

Dr. Peter Wolfrum